Luftverschmutzung: Wie kam es zur Anklage Frankreichs wegen Untätigkeit beim Klimaschutz?
Bereits seit 2010 kämpft Frankreich in einem Dutzend französischer Ballungsgebiete mit den maximal zulässigen Grenzwerten für Stickoxid und Feinstaub. Aufgrund mangelnder Ergebnisse kam es zu Sanktionen durch den Gerichtshof der Europäischen Union sowie den Staatsrat. Wir erklären, wie es dazu kommen konnte.
Juli 2022. Weil Frankreich seinen Verpflichtungen zur Verbesserung der Luftqualität nicht nachkommen konnte, verurteilte der Staatsrat das Land zu einer geschichtsträchtigen Geldstrafe von 20 Millionen Euro. Diese Entscheidung ist die logische Konsequenz aus zwei Jahrzehnten der Nichteinhaltung von EU-Vorschriften. „Mitte der 2000er-Jahre hat die EU verschiedene Richtlinien zum Schutz der Bürger verabschiedet“, erklärt Laurence Eymard, emeritierte Forschungsdirektorin des französischen Wissenschaftszentrums CNRS und Forscherin am Institut für die Umweltwende an der Sorbonne Université in Paris (SU-ITE). Diese Richtlinien sind Bestandteil des französischen Rechts und somit rechtlich bindend. Unter anderem beinhalten sie Verpflichtungen zur Kontrolle und Aufklärung sowie verschiedene Maßnahmen, um die Einhaltung der Grenzwerte für die einzelnen Schadstoffe zu gewährleisten. „Bereits seit etwa zehn Jahren wird Frankreich hinsichtlich seines Umgangs mit der Luftqualität und der Schwierigkeiten bei der Umsetzung der durch die EU vorgegebenen Ziele von der Europäischen Kommission beobachtet. Auf Warnungen folgten Gerichtsurteile“, so Laurence Eymard weiter. So wurde der französische Staat in einem Urteil vom Oktober 2019 vom Gerichtshof der Europäischen Union sowie im August 2021 und Juli 2022 vom Staatsrat – der von der Umweltorganisation „Amis de la Terre“ (Freunde der Erde) und 77 weiteren Umweltverbänden eingeschaltet wurde – angeklagt. In der Folge wurden millionenschwere Bußgelder verhängt.
Grenzwerte für Stickstoffdioxid überschritten
Wie aber konnte es zu diesen Anklagen kommen? Seit 2010 wurden die Grenzwerte für Stickoxid und Feinstaub in den zehn folgenden französischen Ballungsgebieten wiederholt überschritten: Paris, Marseille, Lyon, Nizza, Toulouse, Straßburg, Montpellier, Grenoble, Reims, Clermont-Ferrand, Toulon und das Arve-Tal. In den verschiedenen Gebieten wurden die in den EU-Richtlinien festgelegten Grenzwerte für den Jahresdurchschnitt von Stickoxid und/oder Feinstaub nicht eingehalten. Auch wenn der Staatsrat in seiner Entscheidung von 2022 einräumt, dass sich die „Situation insgesamt verbessert“ hat, bleibt sie insbesondere in vier Gebieten alarmierend: Toulouse, Paris, Lyon und Aix-Marseille. Die Bestandsaufnahme unterstreicht die Mangelhaftigkeit der bisherigen Bemühungen. „Die bislang ergriffenen Maßnahmen gewährleisten kurzfristig keinerlei Verbesserung“, konstatiert der Staatsrat.
Zwei Schwerpunkte: Straßenverkehr und Heizungen in Privathaushalten
„In der Industrie sind die Kontrollen heute relativ zufriedenstellend. Um allerdings den europäischen Normen zu entsprechen, muss sich der französische Staat nun auch der Privatpersonen annehmen, insbesondere in Hinsicht auf Personenverkehr und Hausheizungen, die den Großteil der derzeitigen Stickoxid- und Feinstaubbelastung verursachen“, erläutert Laurence Eymard. Durch die damit einhergehende Sozial- und Stadtpolitik gestaltet sich dieses Vorhaben besonders heikel und komplex. „Vielen Menschen ist es nicht möglich, von einem Tag auf den anderen auf ein Elektroauto umsteigen oder ihre Heizmethode ändern“, so Laurence Eymard. Der Rat stellt jedoch auch positive Entwicklungen in den Bereichen Verkehr und Bauwesen fest, darunter die Ausweitung von emissionsarmen Mobilitätszonen (ZFE-m), Fördergelder für den Erwerb von weniger umweltschädlichen Fahrzeugen, die Förderung der sogenannten sanften Mobilität sowie Verbote für Öl- und Kohleheizungen. Aber reicht das aus? „Uns wurde die Stadtplanungspolitik der Pompidou-Ära vererbt, in der das Auto im Mittelpunkt stand. Die Wohngebiete wurden von den Arbeits- und Freizeiteinrichtungen getrennt. Es wird noch Jahrzehnte dauern, bevor Dienstleistungen und Geschäfte wieder in Laufnähe sind, die öffentlichen Verkehrsmittel ausgebaut sind und wir auf das Auto verzichten können. Wir können nicht in zehn Jahren ändern, was wir in 50 Jahren aufgebaut haben“, verdeutlicht Laurence Eymard. Allein die Bereitstellung von S-Bahn-Linien in den französischen Großstädten – vom Präsidenten Emmanuel Macron für November 2022 angekündigt – dürfte noch Jahre in Anspruch nehmen.
Luftverschmutzung: Grenoble verklagt den französischen Staat
Auch auf lokaler Ebene wächst der Protest: Ende Februar 2023 reichte die Stadt Grenoble eine Klage beim Verwaltungsgericht ein, um den von der Präfektur des Departements Isère verabschiedeten Plan zum Schutz der Atmosphäre (PPA) anzufechten. Das Ziel: „Die Annullierung und Neuformulierung eines weiterreichenden PPA, der die Gesundheit der den Luftschadstoffen Feinstaub und Stickstoffdioxid ausgesetzten Bewohner berücksichtigt“, so Eric Piolle, Bürgermeister von Grenoble.